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Dienstag, 11. September 2018

Kapitel 7. Ein Loch im Herzen

Schreiend erwachte Tanja aus dem Albtraum wie von einem Sturz in die Tiefe.

"Beruhig dich, Tanja. Es ist alles in Ordnung", kam es von einer Stimme. Einer männlichen Stimme. Warm und freundlich.

"Chris?" Sie richtete ihren Oberkörper auf und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. "Wo-wo bin ich? Was ist passiert?" Chris setzte sich zu ihr ans Bett und schenkte ihr ein breites Lächeln.

"Du bist eingeschlafen, mann." Tanja fasste sich an die Stirn und verzog eine schmerzverzerrte Miene.

"Ich bin eingeschlafen?" Irritiert ließ sie den Blick umher schweifen bis ihre Aufmerksamkeit an der langen, lodernden Flamme des Kerzenstummels haften blieb.

'Moment mal... habe ich sie nicht eben erst angezündet? Wie kann sie nur noch so klein sein? Habe ich so lange geschlafen?' Chris riss sie aus den Gedanken heraus.

"Hier. Eine kleine Erfrischung." Er reichte ihr ein Glas Wasser an.

"Danke", entgegnete sie und war froh über das Angebot, denn der Traum hatte sie schwach und hilflos wie ein Baby-Kätzchen zurückgelassen.

'War es wirklich nur ein Traum?' Sie vermochte es nicht mit Sicherheit zu sagen, doch nachdem sie das Glas in einem Zuge geleert hatte, ging es ihr schon sichtlich besser. Sie wollte Chris soeben etwas bezüglich der Welpen fragen, da bemerkte sie, wie sein Blick ernst wurde.

'Oh, oh. Er will, dass ich ihm von dem Traum erzähle. Sowas peinliches erzählen ich ihm doch nicht.' Stattdessen startete sie ein Ablenkungsmanöver.

"Wie-wie geht es den Welpen?", fragte sie schnell und ärgerte sich darüber, dass sie stammelte.

"Dancer, Angel und Ghost schlafen am Kamin bei Luna. Wisdom schläft oben bei Jay."

"Was? Er schläft oben? Warum hast du ihn mit hoch genommen? Sie sollen doch nicht-"

"Ich habe ihn nicht mit hoch genommen", unterbrach er sie, "ich war ja selbst überrascht, als ich ihn bei Jay im Zimmer antraf."

"Antraf? Er war also vor dir oben? Wie soll er denn alleine die hohen Treppenstufen hochgeklettert sein?"

Grinsend nahm Chris ihr die dünne Decke weg und schmiss sie auf dem Boden.

"So." Tanja runzelte die Stirn.

"So?" Chris knüllte die Decke zu einem großen Ball zusammen und legte sie genau vor die Bettkante.

"Genau. So." Tanja begriff noch immer nicht worauf er hinaus wollte und blickte ihn fragend an.

"Verstehst du es nicht? Wisdom hat die Decke genau so vor die Treppenstufen platziert und die sie als Hocker benutzt. Dann ist er die nächste Stufe hochgeklettert, hat die Decke mit seiner Schnauze mitgenommen und hat sie bei der nächsten Stufe wieder als Hocker verwendet. Das ganze hat er dann so lange wiederholt bis er oben war. Krass oder?"

Tanja fand es in der Tat krass, dass Wisdom sich so gut zu helfen wusste, doch beunruhigte sie gleichzeitig auch die außergewöhnliche Intelligenz, die der Welpen jetzt schon an den Tag legte. Auf die Idee, eine Decke als Hocker zu benutzen, wäre sie selbst niemals gekommen.

"Ich schaue jetzt mal nach den Welpen. Ich will selber sehen, dass sie wirklich gut schlafen." Sie stand auf und wollte schon losgehen, als Chris sie bereits am Handgelenk gepackt hatte.

"Willst du mir nicht verraten, warum DU nicht gut geschlafen hast?" Tanja hatte den Anstand ein beschämtes Gesicht zu machen.

"Ich... ich habe gut geschlafen, nur ich ehm..."

"Ja?" Als Tanja nichts gutes einfallen wollte, setzte sie sich wieder hin und wurde nachdenklich. Betretenes Schweigen machte sich im Raum breit und eine Weile lang war es ruhig und still.

"Da war eine Kette", begann sie schließlich und starrte auf den Boden, als blickte sie direkt in eine andere Welt. "Eine große, goldene, schwere Kette. Sie war plötzlich um meinen Hals und drückte mir die Luft ab." Tanja rieb sich die Kehle, als würde sie den Druck der Kette noch immer spüren.

"Gleichzeitig sah ich über mir eine Zahl schweben, die im Sekunden-Takt immer kleiner wurde."

"Der Countdown", merkte Chris kurz an. Sie nickte zustimmend und fuhr fort.

"Als der Countdown beinah abgelaufen war, erinnerte ich mich an etwas, woran ich mich eigentlich nie wieder erinnern wollte." Sie hielt kurz inne und schluckte.

"Ich war vier, als meine Mutter eines Nachts entschieden hatte, mich und meinen Vater zu verlassen. Ich konnte nicht schlafen und wollte zu ihr ins Zimmer gehen, als ich plötzlich Geräusche von der Haustür hörte. Ich bin sofort hingegangen, um nachzuschauen wer da war und da stand sie auch schon. Mit Reise-Rucksack und Jacke. Eine Hand schon an der Türklinke angelehnt. Weil ich sie nur von hinten sah, kann ich mich bis heute kaum an ihr Gesicht erinnern. Umso besser weiß ich dafür wie ihr Körper ausgesehen hat. Sie war groß, athletisch und hatte wunderschöne rote Haare, die ihr bis zum Po gingen. Beim Gehen schwenkten sie immer ganz lässig hin und her. Insgesamt wirkte ihre Figur sehr stolz und kriegerisch, aber trotzdem weiblich. Als ich sie dann fragte, wohin sie gehen wollte, blieb sie kurz stehen und sagte, ich solle ihr bloß nicht folgen, denn so ein lästiges Balg wie mich, könne sie nicht gebrauchen. Dann knallte sie die Tür hinter sich zu und kam nie mehr wieder." Tanja zog die Beine an ihren Körper heran und Tränen traten ihr in die Augen.

"Danach habe ich bis zur Einschulung jeden Tag vor der Tür auf sie gewartet. Habe gewartet und gewartet und mich ständig gefragt, warum sie mich zurückgelassen hat, warum sie nicht mehr bei mir sein wollte. Damals war ich nicht so wie jetzt. Temperamentvoll und eigensinnig. Ich war ein braves Mädchen. Fröhlich. Lieb und habe mich immer an die Regeln gehalten. Warum hat sie mir das dann angetan? Warum hat sie mich dann wie lästigen Dreck unterm Schuh abgeschüttelt?!"

Es kam plötzlich aus ihr herausgesprudelt. Wie dickes, schwarzes Blut aus einer Wunde. Einer Wunde, die noch immer nicht verheilt war. Einer Wunde, die vielleicht niemals verheilen würde. Sie richtete den Blick auf Chris.

"Erinnerst du dich noch daran, als Jakob zu mir sagte, dass ich bestimmt als Jungfrau sterben würde? Ich hasse es, es zu zugeben, aber er hat recht - ich meine, wenn noch nicht einmal meine Mutter etwas mit mir zu tun haben möchte, warum sollte es dann irgendwer anders tun?" Tanja bedeckte die Augen mit ihren Handflächen und stütze sich mit den Ellenbogen an ihren Oberschenkeln ab.

"Jemand wie ich hat offensichtlich keine Liebe verdient. Ich bin's selbst schuld. Nutzlos, wertlos - verbrauche nur essen und Luft, die ich auch nicht verdient habe. Ich wünschte ich wäre niemals geboren worden!"

Die letzten Worte verendeten ihr in der Kehle. Erstickten in Trauer und Wut. Ein Gefühl der Verzweiflung machte sich in ihr breit und drängte die Tränen aus ihr heraus. Schnell wandte sie das Gesicht von Chris ab, doch nicht schnell genug. Er sah die Tränen, die wie zwei Sternschnuppen über ihre Wangen huschten. Sah den Schmerz, den Kummer und die Hoffnugslosigkeit in ihrem Ausdruck.

Er beugte sich zu ihr hinüber, drehte ihr Gesicht mit einer Hand zu sich und... küsste sie auf den Mund. Ihre Emotionen, ihre Persönlichkeit, ihre Vergangenheit - das alles konnte er in diesem einzigen Kuss lesen. Bittere Traurigkeit mischte sich unter dem salzigen Geschmack ihrer Tränen und die Zartheit ihrer Lippen, spiegelte die Zartheit ihres zerbrechlichen Wesens wieder. Dass sie sich nicht gegen den Kuss gewehrt hatte, zeigte Chris, wie sehr sie sich Liebe wünschte und wie wenig sie bislang davon erfahren hatte.

Schließlich löste er seine Lippen von den ihren und fesselte sie mit seinem Blick. Liebevoll umfasste er mit den Händen ihr Gesicht und wischte die Tränen mit den Daumen weg. Die Überraschung in ihren smaragdgrünen Augen war unverkennbar, doch funkelte in ihnen auch Neugierde und Lust.

Schlagartig schien es Chris, als würde die Welt dunkler werden. Ein Blick zur Seite zeigte, wie das einst strahlend gelbe Kerzenlicht immer schwächer wurde bis schließlich nur noch ein winziger, blauer Punkt überlebte. Wenig später starb auch dieser. Ertrunken im eigenen Kerzenwachs.

Der Duft von Rauch und Ruß stieg Chris in die Nase und im Raum war es mit einem Mal komplett dunkel. Keiner der beiden sagte etwas. Keiner bewegte sich. Keiner machte auch nur irgendwie ein Geräusch. Plötzlich spürte Chris, wie Tanja seine Hände von ihrem Gesicht nahm... und sie langsam auf ihre Brüste legte.

Sonntag, 10. Juni 2018

Kapitel 6. Keine Sicherheit

Als Chris nach oben gegangen war, um nach Jakob zu schauen, hatte Tanja sich schon einmal bereit fürs Bett gemacht. Dabei handelte es sich nicht wirklich um ein Bett, sondern um eine Couch, die man zu einem bettähnlichen Gestell ausklappen konnte. Sie war dunkelbraun, groß, etwas rauer vom Stoff her, aber ansonsten ganz bequem.

Generell fand Tanja es nicht schlimm im Wohnzimmer zu schlafen. Die hölzernen Möbel und die freie Sicht nach draußen, gaben ihr das Gefühl mit der Natur verbunden zu sein. Besonders Nachts, wenn der Mond über den Himmel herrschte und die Sterne gut zu sehen waren. Das waren die Nächte in denen Tanja am besten schlief. Wohlbehütet und geborgen im dämmernden Licht des Mondes, während die Sterne abwechselnd stärker und schwächer funkelten, als tauschten sie untereinander Gute-Nacht-Geschichten aus. Nicht aber in dieser Nacht.

In dieser Nacht war es der Neumond der über den Himmel herrschte und bei Neumond blieb der Himmel schwarz. Kein Mondscheinlicht und auch kein Sternenfunkeln würde ihr dieses Mal den Schlaf versüßen. So kam es, dass Tanja sich gezwungen sah aufzustehen, um eine Kerze anzuzünden.

Als die Kerze schließlich brannte, ließ sie sich mit dem Rücken zurück ins Bett fallen und starrte mit leerem Blick die hohe Decke an. Im flackernden Kerzenlicht erschien sie gelblich-orange.

'Passiert das alles wirklich?', fragte sie sich nicht zum ersten Mal und wusste wie immer keine Antwort darauf. Es war einfach so viel passiert.

Morgens glaubte sie stets, alles sei nur ein böser Traum gewesen und dass sie in Wirklichkeit noch immer mit Chris und Jakob in ihrem Auto saß und auf Romeo warteten. Sobald er wieder da wäre, würde sie toben, sagte sie sich. Toben würde sie, ihn anbrüllen und ihn fragen was das soll, warum er so lange gebraucht hatte und warum er sich nicht hatte beeilen können, der Scheißkerl!

Doch irgendwann merkte sie, dass irgendetwas nicht stimmte. Spürte die Bettdecke über ihren Leib. Erkannte die Möbel um sich herum und wurde sich wieder schmerzhaft bewusst wo sie war. Gefangen in dem bösen Traum, der gar kein Traum war.

Mit dieser Erkenntnis kehrte dann auch die Erinnerung zurück und mit der Erinnerung erneut das Gefühl von Leere und Verlust.

Noch immer schnürte es ihr die Kehle zu, wenn sie darüber nachdachte, wie sie Jakob hinten im Rücksitz vorgefunden hatte. Regungslos und ohne Körperspannung. Eigentlich schon wie ein Toter.

Sie vermochte sich nicht vorzustellen wie alles abgelaufen wäre, wenn Chris nicht dabei gewesen wäre. Im Gegensatz zu ihr, wusste er immer was zu tun war.

"Tanja, ruf schnell einen Krankenwagen an!", hatte er ihr zugerufen, nachdem er Jakobs Atmung und Puls überprüft hatte. Sie fragte sich wann Chris vom Beifahrerplatz aufgesprungen war und die Tür aufgerissenen hatte, doch legte sie diese Frage erstmal beiseite und kam seiner Aufforderung sofort nach.

Beim Warten erschien es ihr, als verstrichen die Sekunden wie Stunden. Chris musste ebenso empfunden haben.

"Wie lange dauert es noch?", fragte er ungeduldig.

"Keine Ahnung, da geht keiner ran." Zum Beweis schaltete sie den Lautsprecher ein und ließ ihn sich selbst einen Reim auf das ertönende Freizeichen machen.

"Das gibt's doch nicht, mann!", entgegnete er gereizt und suchte mit hin und her huschenden Augen nach einer Lösung. Und da war sie auch schon.

"Dein Vater! Er ist doch Polizeichef oder sowas. Bestimmt kann er uns einen Krankenwagen schicken." Tanja verzog das Gesicht, als hätte sie auf etwas gebissen, dass ihr nicht schmeckte.

"Ja schon, aber ich glaube nicht, dass das sein Aufgabenbereich ist. Außerdem haben wir wieder Streit." Chris sah sie entgeistert an.

"Das kannst du doch nicht ernst meinen, Tanja. Ist Jakob nicht dein Freund?" Tanja schlug mit der Faust gegen das Lenkrad.
"Natürlich ist er das, aber du kennst meinen Vater nicht!"

"Ich kenne aber Jay und Jay würde für dich mit dem Teufel höchst persönlich telefonieren, wenn es dein Leben retten könnte! Jeder von uns würde das für dich tun. Jeder der dein wahrer Freund ist. Würdest du einen wahren Freund sterben lassen, obwohl ein Anruf ihn vielleicht retten könnte?" Tanjas Gesicht rötete sich bei diesen Worten.

"Das ist echt nicht fair von dir, Chris. Das ist einfach nicht fair." Sie wartete seine Reaktion nicht ab, sondern wandte ihm den Rücken zu und rief ihren Vater an. Dabei schien die Zeit wieder kaum zu verstreichen.

"Und?", fragte Chris nach einer Weile. Tanja schüttelte den Kopf. Chris Augen wurden kurz groß. "Was, echt jetzt?" Schweißperlen bedeckten seine Stirn. Er fragte sich, warum heute nur alles schief lief.

Ungebeten überfiel ihn ein unangenehmes Gefühl, so als würde er beobachtet werden.

Rasch warf er einen langen, eindringlichen Blick auf das Schulgebäude, dass wie eine Festung hinter ihnen aufragte. Dabei fiel sein Blick auf einen Raben, welcher in der Nähe des Haupteingangs auf einer Laterne saß. Dieser schien ihn mit seinen roten Knopfaugen fest zu fixieren. Als der Rabe sah, dass Chris ihn beobachtete, blinzelte der Rabe zweimal, wendete den Kopf von ihm ab und flog mit großem Sprung davon. Da traf Chris seine Entscheidung.

"Tanja. Vergiss deinen Vater, mann. Wir müssen hier weg." Er zog Jakob aus dem Auto und warf ihn sich über die Schulter, wie einen nassen Sack Reis. Tanja kam nicht mehr mit.

"Wie jetzt? Was ist denn los? Und warum trägst du Jakob jetzt aus dem Auto, wenn wir doch weg sollen? Ich versteh gerade gar nichts mehr, Chris." Er ignorierte ihre Fragen. Nickte sie stattdessen mit dem Kopf zu sich.

"Komm, wir müssen hier weg! Ich erkläre dir alles auf dem Weg." Tanja setzte ihre bekannte, störrische Miene auf.

"Dann gehen wir aber zur meiner Großmutter. Ich muss unbedingt wissen wie es meiner Luna geht."

"Ist es weit bis zu ihr?" Tanja zeigte mit dem Zeigefinger auf einen Hügel in der Ferne.

"Zehn Minuten von hier. Höchstens fünfzehn."

"Gut, dann lass uns vorübergehend dort hin." Sie waren kaum drei Schritte gegangen, als Tanja laut Aufschrie.

"Verfickte Scheiße!" Chris drehte sich zu ihr um.

"Was ist los? Was ist passiert?" Tanja fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und stöhnte.

"Mein Handy ist gerade aus gegangen und ich kenne den Weg zu Fuß nicht." Mit einer raschen Handbewegung gab Chris seine Armbanduhr zu erkennen.

"Keine Sorge. Ich kenne da jemanden, der uns helfen kann." Er hielt sie sich vor dem Mund und sprach hinein: "Verbindung zu Code B-E-N herstellen."
Eine mechanische Damenstimme antwortete: "Verbindung zu Code B-E-N wird hergestellt." Nach wenigen Sekunden ging schon jemand ran.

"Jo, was gibt's?"

"Ben!" Beim Klang der Stimme seines großen Bruders, wurde es Chris warm ums Herz. "Mann bin ich froh deine Stimme zu hören." Der Ben genannte fing an zu lachen.

"Das sagen die Mädels auch immer. Was ist denn los, Bruder? Wo drückt der Schuh?" Chris vernahm ein weiches Schmatzgeräusch, wie wenn jemand in einen Apfel biss.

"Ben, kannst du mir eine Karte von meinem Standort und meiner Umgebung versenden? Die Koordinaten sind x12/y10 Kontinent 91. Radius 2 bis 6." Wieder war da das Schmatzgeräusch.

"Mmmh, lass mich mal schauen." Ein Orchester aus Tastengetippe und Schmatzgeräuschen spielte eine Zeit lang bis ein lautes Husten die Vorführung beendete.

"Oh, oh. Chris, du musst da sofor... we...!" Ein starkes Rauschen ertönte plötzlich und man konnte das Gesprochene Wort nicht mehr verstehen.

"Ben? Ben?" Es folgte keine Antwort. Tanja trat näher.

"Was ist los?"

"Komisch. Die Verbindung wird plötzlich schlechter", antwortete Chris so überrascht, als hätte er gerade ein Gespenst gesehen.

"Was ist daran komisch?" Chris tippte mit dem Zeigefinger auf die Uhr.

"Meine Uhr benutzt ein komplett anderes Netzwerk, als das von deinem Handy. Verbindungsstörungen habe ich noch nie gehabt."

Tanja fühlte sich an die Störgeräusche, die ihr Autoradio vorhin von sich gegeben hatte, zurück erinnert. Und jetzt wo Chris es sagte, auch ihr Radio hatte bis dahin nie Probleme gemacht. Was hatte das zu bedeuten?

"Bruder? Brud..? Bist...u... noch da? Hallo..örst... u... mich?", kam es verzerrt aus Chris Uhr heraus.

"Ja, ich bin hier, Ben! Kannst du mich hören? Ben!?"

"Lauf..., Bruder. Es ist zu... gefähr...wo du.. ist, ...lauf!"

"Was? Ich versteh kein-"

"Verbindung zu Code B-E-N wurde abgebrochen", unterbrach ihn die mechanische Damenstimme und das Rauschen war mitsamt der Stimme seines Bruders verschwunden.

"Verdammt! Was hatte er am Ende gesagt? Tanja, hast du vielleicht verstanden was er ge-", hatte Chris angesetzt, als ihm beim Anblick der Situation die Worte in der Kehle verendeten. Eine goldene Kette hatte sich wie eine Würgeschlange um Tanjas Hals geschlungen und ihr die Luft abgedrückt und über ihren Kopf schwebte eine Zahl, die sich im Sekunden-Takt veränderte.

Acht.

Sieben. 'Nein, das darf nicht sein!'

Sechs. 'Das kann nicht sein!'

Fünf.

Und da Begriff er es. Bei Null würde Tanja verschwinden.

Vier. "Neeeein!", schrie er und lief mit Jakobs Körper auf seinen Schultern so schnell er konnte auf sie zu.

Drei. "Tanja!" Er streckte seine Hand nach ihr aus. "Gib mir deine Hand, schnell!" Doch dies war ihr unmöglich. Stattdessen war sie gerade dabei das Bewusstsein zu verlieren. Ihre Pupillen waren schon soweit nach oben gerollt, dass man nur noch das weisse, der Augen sehen konnte.

Zwei. Chris holte nochmal alles aus sich heraus und hoffte sein linker Arm, der nicht mit dem Gewicht von Jakob beladen war, würde es noch rechtzeitig schaffen.

Eins.

"Tanja!" Sein lauter Ruf war für sie zu einem leisen Flüstern verklungen. Sie wollte ihm die Hand reichen. Sie wollte es unbedingt, doch sie konnte es nicht! Keine Kraft war mehr in ihr geblieben. Keine Kraft und bald auch keine Leben mehr so dachte sie noch, bevor ein grelles, blaues Leuchten, sie wie ein Lichtschalter ausknippste und Schwärze ihr das Augenlicht raubte.

Das letzte an das sie sich noch erinnerte, war die tröstliche Wärme einer Hand, bevor ihr der Kopf von einer Übermacht abgerissen wurde.

In jener Nacht herrschte der Neumond.

Sonntag, 27. August 2017

Kapitel 5. Ein neuer Begleiter

Es war später Abend geworden. Das Schlafzimmer, welches Chris gerade betrat, war kalt und duster. Nur die Laterne, die er sich mit ausgestrecktem Arm vor die breite Brust hielt, vermochte es dem Raum ein wenig Licht und Wärme und auch ein wenig Trost zu spenden.

'Komm schon, mann. Bitte sei heute wach... bitte... wir brauchen dich, Jay', hoffte Chris verzweifelt in Gedanken, derweil er die Tür behutsam hinter sich zu schob. Jeden Morgen und jeden Abend hatte er dafür gebetet, dass Jakob unbeschadet aus der Ohnmacht erwachen möge, in die er am Tag, wo sie nach Romeo suchen wollten ohne Vorwarnung gefallen war. Doch es hatte nichts genützt.

Mehr als sechs Wochen lang befand sich Jakob mittlerweile im Koma. Heute würde es womöglich die siebte werden.

'Nein. Heute wird er aufwachen. Heute wird er ganz bestimmt aufwachen. Er muss einfach!', zwang sich Chris immer wieder zu denken und schloss dabei seine Hand so feste um den Griff der Laterne, als wäre es die Hoffnung selbst.

Mit jedem Schritt, den er nach vorne tat, traten nach und nach einzelne Möbelstücke aus der Dunkelheit hervor, wie Muscheln am Strand, wenn das Meer sich zurückzieht.

Rechts im Zimmer befanden sich ein weißer Schminktisch, ein ebenso weißer Wandspiegel und ein aus Stroh geflochtener Wippstuhl, wobei Letzteres optisch nicht so recht zum übrigen Mobiliar passen wollte. Auf der linken Seite dagegen stand nahe einem auf Kippe stehendem Fenster eine kleine, weiße Kommode, worüber an der Wand ein wunderschönes in gold eingerahmtes Hochzeitsfoto hing - Tanjas Großeltern. Chris erinnerte sich noch daran, wie sehr ihn das Bild beim aller ersten Mal überwältigt hatte. Ein lebhafteres und glücklicheres Bild von einem Paar hatte er noch nie gesehen.

Ein nicht so lebhaftes und glückliches Bild bot dagegen der Anblick auf das breite Bett vor ihm. Mittendrin Jakob. Noch immer regungslos. Noch immer totenstill.

Chris ging über die rechte Seite auf ihn zu, die Beine schwer wie Blei. Stillschweigend ließ er den Blick auf seinen daliegenden Freund ruhen und dachte an längst vergangene Zeiten. Eine ganze Weile lang geschah nichts und die Zeit verstrich ohne dass es Chris aufgefallen war.

Dann stellte er die Laterne vorsichtig auf dem Schminktisch ab, verrückte den Wippstuhl etwas nach hinten und ging schwerfällig wie ein gichtkranker, alter Ritter auf ein Knie. Er umschlang Jakobs linke Hand mit den seinigen und fand sich schließlich in der Gegenwart wieder.

"Hey", flüsterte Chris ihm zu. Stets flüsterte er, wenn er dieserorts zu Jakob sprach. "Wie geht es dir heute?" Der blasse, regungslose Körper antwortete nicht. Dennoch genügte ein einziger Blick in das leblose Gesicht, um darin die Antwort abzulesen. Er sah die tiefen Gruben der eingefallenen Wangen. Die langen, dunklen Ränder unter den Augen. Die trockenen und spröden Lippen, welche viele, kleine Risse aufwiesen. Plötzlich schien die Welt zu verschwimmen bis Chris merkte, dass er weinte. Nun konnte er ein leises Schluchzen nicht mehr länger zurückhalten.

"Wi-wie konnte das nur passieren, mann... wie konnte das nur... pa-passier-... ", seine Stimme brach und der Satz blieb unvollständig, wie die Welt für ihn ohne seinen geliebten Freund Jakob. Sein Bruder, wenn auch nicht dem Blute nach. Wieder verstrich Zeit. Ob zwei Minuten oder zwei Stunden vermochte er nicht mehr zu sagen.

Unangekündigt glaubte er plötzlich etwas gehört zu haben. Ein leises, helles, immer wieder einkehrendes Geräusch, wie wenn jemand an etwas herum schabte.

'Was war das?' Er hielt kurz inne und lauschte mit den Ohren nach der Wahrheit. Kurze Zeit darauf ertönte das Geräusch wieder. Leise und hell und ganz in der Nähe.

'Es kommt von hier', vermutete er nach einer Weile und schaute links neben sich auf den Boden. Und tatsächlich! Zwar konnte er wegen seines eigenen Schattens, nicht viel erkennen, doch glaubte er gesehen zu haben, wie sich etwas Dunkles im Dunkeln bewegt hatte. Wie ein Schatten im Schatten. Rasch rieb er sich mit beiden Händen Tränen und Trauer aus dem Gesicht und blickte mit einem Mal wieder ernst drein. Das Wesen im Schatten schien zu wissen, dass es nicht gleich erkannt worden war und trat tappend und mit großen Augen aus der Dunkelheit hervor. Chris soeben erst ernst gewordene Miene schmolz augenblicklich dahin.

"Wisdom", hörte er sich erstaunt sagen, als das wunderschöne Gesicht eines Hundewelpen ihn mit klug drein blickenden Augen fixierte. Er fragte sich, wie ein Wesen nur so magisch aussehen konnte. Die linke Gesichtshälfte des kleinen Vierbeiners war weiss wie Schnee und enthüllte ein kühles, eisblaues Auge. Die rechte Gesichtshälfte dagegen war rabenschwarz und gab ein warmes, hellbraunes Auge zu erkennen. Aufgrund dessen hatte Chris ihn zunächst Twoface, Blackwhite Delight oder Twindog nennen wollen. Als Tanja jedoch von jener Auswahl zu hören bekam, war sie beinah aus der Haut gefahren.

"TWOFACE? BLACKWHITE DELIGHT? TWINDOG???", hatte sie giftig ausgespuckt und zwar in einem Tonfall, welcher besagte, dass Chris ein kompletter Vollidiot war. "Auf keinen Fall", hatte sie entschieden gesagt und fügte dem noch hinzu:

"Luna's neugeborenen Hundewelpen sind doch keine dummen Rollenspiel-Charaktere aus irgend einem dummen Computerspiel. Sie sind lebendige Wesen mit einer richtigen Seele, daher werden wir ihnen auch einen richtige Namen geben. Am besten einen mit einer schönen Bedeutung, der aber trotzdem noch zu den Welpen passt."

Daraufhin hatte Chris ihr versprochen sich daran zu halten und so kam es, dass er sich zwei Wochen später für den Namen 'Wisdom' entschieden hatte, welches Tanja wohlwollend und mit großen, glänzenden Augen aufnahm.

"Was machst du denn hier, Großer?", fragte er den kleinen Vierbeiner noch immer verwundert über sein Erscheinen. "Und wie bist du eigentlich ganz alleine die hohen Treppenstufen hochgeklettert, mann?" Wisdom antwortete nicht. Hob nur die Pfote und kratzte erneut an der Seite des Bettes, jedoch nur ganz leicht und mit Bewegungen, die dem menschlichen Anklopfen erstaunlich nahe kamen. Chris hatte sofort verstanden.

"Ich seh schon du willst zu Jay, stimmt's?" Ohne eine Antwort abzuwarten hob er den zierlichen Welpen mit seinen großen, starken Händen vom Boden auf und legte diesen halb unter die wärmende Bettdecke neben Jakobs Gesicht, wo dieser sich genau in die Mulde zwischen Hals und Schulter einkuscheln konnte. Sobald der Welpe eine gemütliche Schlafposition gefunden hatte, schenkte dieser Jakob noch einen letzten, feuchten gute Nacht Schlecker auf die Wange und folgte ihm danach friedlich in den tiefen Schlaf.

"Perfekt. Da liegst du gut, Großer", flüsterte Chris und verließ das Zimmer leichten Herzens. Für einen kurzen Augenblick meinte er gesehen zu haben, wie Jakobs Lippen sich zu einem kleinen Lächeln geformt hatten. Es gab also noch Hoffnung für seinen Freund. Hoffnung für die Zukunft und Hoffnung... für die gesamte Menschheit.

Mittwoch, 31. August 2016

Kapitel 4. Wiedergeburt

Langsam hob Jakob die schweren Lider und blickte irritiert ins leere Dunkle.

'Wo bin ich?'

Er blinzelte und kniff mehrmals die Augen fest zusammen, doch alles Blinzeln und Augenkneifen hatte nichts genützt. Mit geöffneten sowie mit geschlossenen Augen blieb die Welt nach wie vor im Schatten. Ein unheimlicher Gedanke überfiel ihn abrupt.

'Bin ich möglicherweise... tot?'

Das letzte Wort echote in seinen Gedanken, wie ein Krähenruf. Tot. Tot. Tot. Er erinnerte sich noch daran, wie ein heißer, stechender Schmerz, zäh und massig wie Magma, sich auf sein Bewusstsein gestürzt hatte und ihn wie einen kleinen Jungen hatte laut aufschreien lassen. Es war ein Albtraum. Ein nie enden wollender Albtraum, hatte er gedacht - bis die Pein so unerträglich geworden war, dass ein Geräusch wie wenn Leder reißt, dann doch noch den Albtraum beendete. Danach folgte Finsternis. Stille. Und nun war er hier.

'Nein, ich bin nicht tot... das kann nicht sein... das DARF nicht sein!'

Jakob wollte es nicht wahr haben. Zu viele Dinge waren noch ungetan. Zu viele Rätsel ungelöst. Also fuhr er sich mit einer Hand übers Gesicht, um zu überprüfen, ob er noch einen physischen Körper besaß. Dabei wanderte er mit den Fingern von den Nasenflügeln bis übers Nasenbein. Betastete dann beide Augen. Strich sich über die markanten Wangenknochen und endete schließlich an den schmalen aber wohlgeformten Lippen, die er seine nennen durfte. Warme Atemluft, die von seiner Nase austrat, liebkoste seine Fingerkuppen. Er atmete. Er atmete und fühlte und lebte somit noch immer.

'Ich lebe!'

Im selben Moment dieser Erkenntnis schossen ihm seine Freunde durch den Kopf.

'Tanja! Chris! Wo sind sie? Und Romeo? Ist Romeo wieder zurück?'

Bei dem Gedanken an Romeo, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Er versuchte sich vorzustellen, wie Romeo gesund und munter mit den anderen bei Chris zu Tische saß und sie nur noch darauf warteten, dass er aufwachte und sich zu ihnen dazu gesellte. Chris konnte er beinah sagen hören:

"Na, endlich! Da ist ja unsere Schlafmütze. Komm schon, Jay. Schwing dich zu mir rüber und iss mit uns mit, mann. Es ist genug für alle da!

Tanja hingegen sagte in seiner Vorstellung:

"Du brauchst die Salatschüssel gar nicht erst so blöd anzuglotzen, Vierauge. Kannst dir schön selbst 'ne Schüssel machen. Diese hier ist meine!"

Schließlich würde Romeo sagen... er würde sagen...nein. Es klappte nicht. Aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht vorstellen, was Romeo bei seinem Erscheinen sagen würde. Und generell hatte er ihn plötzlich nur noch schwach in Erinnerung, so als habe er ihn das letzte mal vor vielen, vielen Jahren gesehen. Dabei waren sie doch erst heute zusammen in der Schule gewesen.

'Warte mal. War es heute gewesen?'

Das konnte er gar nicht mehr mit Sicherheit sagen, fiel ihm jetzt auf. Schließlich wusste er doch nicht wie viel Zeit mittlerweile verstrichen war. Er versuchte sich daran zu erinnern, was sie nach der Schule gemacht hatten, doch daraufhin wurde es in seinem Kopf nur noch leerer.

'Nein, so klappt das nicht. Darüber werde ich später nachdenken müssen. Erst einmal muss ich herausfinden wo ich hier überhaupt bin.'

Er wollte sich aufrichten und sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, als er plötzlich etwas im Gesicht zu spüren glaubte.

'Was war das?'

Feucht. Mehr rau als glatt und eine Berührung, die ihn von unten nach oben streifte. Der Kontakt war jedoch so kurz gewesen, dass er es genauso gut geträumt haben könnte. Hatte er es nur geträumt?

'Reiß dich zusammen, Jakob. Wahrscheinlich werde ich zu lange auf einer Seite gelegen haben, weshalb das zirkulieren meines Blutkreislaufs jetzt in meinem Gesicht kribbelt. Das ist alles', redete er sich ein und tat die Besorgnis damit ab. Einen Wimpernschlag später jedoch vernahm er wieder den Kontakt. Wieder feucht. Mehr rau als glatt und wieder eine Berührung von unten nach oben.

'Nein, das ist nicht mein Blut. Da ist irgendetwas!'

Augenblicklich schoss Jakob's Oberkörper in die Höhe, die Arme vor sich in einer verteidigenden Haltung.

"Wer ist da?", rief er und versuchte stark und bestimmend zu wirken, merkte aber wie schwach und heiser er klang.

'Was ist mit meiner Stimme passiert?'

Abermals fragte er sich, wie lange er wohl schon hier herum lag, aber auch darum würde er sich später Gedanken machen. Du-dumm! Plötzlich spürte er, wie sein Herz laut zu pochen begann und ein unbeschreiblich intensives Gefühl in ihm ausbrach. Bilder, nein ganze Szenen warfen sich vor seinem inneren Auge und rissen ihn wie eine mächtige Lavine in die Tiefe einer anderen Welt. Eines dieser Szenen zeigte, wie Chris bei Blitz und Regen in einem Garten stand und immer wieder eine Schaufel in den aufgeweichten Boden hinein rammte. Dabei blickte er ungewöhnlich ernst und traurig drein. Eine andere Szene zeigte Tanja in mitten eines Schlafzimmers, die sich hysterisch zu Boden warf und wehleidig zu weinen anfing. Wieder eine andere Szene zeigte, wie ein kleiner Hundewelpe im hohen Bogen vom Bett sprang und unglücklich zu landen drohte.

'Was sind diese Ausschnitte? Woher kommen sie?'

Er bekam keine Antwort. Stattdessen spielte sich die Szene mit dem Welpen nochmals ab und da fiel es ihm auch plötzlich auf.

'Der Welpe springt aber ungewöhnlich hoch.'

Die Szene spielte sich erneut in seinem Kopf ab.

'Warte mal... er springt nicht... sondern fliegt. Ja, genau - er fliegt, weil ihn etwas in die Luft geschleudert hat... nein, nicht etwas. JEMAND!'

Eine andere Szene sollte für Klarheit sorgen. Dort sah er wie der Hundewelpe wenige Sekunden vorher auf der knochigen Schulter eines im Bett liegenden, jungen Mannes lag und freudig sein Gesicht ableckte. Reflexartig schoss jedoch der Oberkörper des Mannes in die Höhe und katapultierte dabei versehentlich den Hundewelpen in die Luft. Augenblicklich wurde Jakob da etwas klar. Der abgemagerte, junge Mann in der Szene... war er selbst.

Sonntag, 21. Februar 2016

Kapitel 3. Bilder aus der Hölle

Nachdem der verzweifelte Hilfeschrei des Radiosprechers den unerwarteten Eilbericht beendet hatte, hielten nur noch ein leises Rauschen und ein stetig tönender Piepston die Stille davon ab, es sich im Auto gemütlich zu machen. Doch selbst wenn Stille eingekehrt wäre, hätte zumindest Jakob diese nicht bemerkt, zu tief versunken war er in Gedanken.

'Menschen aus der ganzen Welt wurden als vermisst gemeldet?', dachte er und tat sich schwer damit dem Eilbericht glauben zu Schenken.

'Heißt das der Radiosprecher ist gerade wirklich... verschwunden? Einfach so?' Jakob ballte die Hände zu Fäusten zusammen und versuchte die Fassung zu bewahren.

'Bleib ruhig, Jakob. Beruhige dich! Wahrscheinlich wird es sich bei der Meldung nur um ein zur Unterhaltung inszeniertes Schauspiel handeln, welches spätestens morgen Mittag als kleiner Frühlings-Geck vorgestellt wird. Jedenfalls werde ich mich jetzt auf dem Weg machen und nach Romeo schauen. Schließlich muss er hier noch sein.' Jakob machte Anstalten aufzustehen und hatte schon den Türgriff in der Hand gehabt, als ihn kurzeitig ein greller, stechender Schmerz ereillte.

"Argh, mein Kopf... was ist das?"
Ein heißes Pochen blieb in seinem Kopf zurück und machte es ihm beinah unmöglich einen Gedanken zu produzieren. Als Gegenmaßnahme massierte er sich die Schläfen, doch half es genau so wenig, wie wenn man versuchte einen Hexenschuss mit einer heißen Tasse Kakao zu vertreiben. Von alle dem bekam Chris nichts mit. Dieser war gedanklich ganz woanders.

"Alter, was zur Hölle war denn das?", gab Chris schrill und mit über den Kopf geworfenen Händen von sich, nicht sicher ob er vom Eilbericht fasziniert oder schockiert sein sollte. Er musste daran denken, was ihm seine Uhr noch vor wenigen Momenten mitgeteilt hatte und zählte eins und eins zusammen.

'Moment mal, könnte es sein, dass Romeo wie der Mann im Radio auch...', er wagte es nicht den Gedanken zu Ende zu denken und ließ das Unausgesprochene unausgesprochen.

"Jay, wie denkst du darüber?", fragte er schnell, als wollte er die vorherigen Gedanken dadurch schnell ungeschehen machen. Tanja mischte sich ein.

"Also ICH denke, dass ich selten etwas so Bescheuertes im Radio gehört habe. Das war sowas von schlecht gespielt."

"Gespielt?", entgegnete Chris erstaunt. "Hast du den Typen eben nicht schreien gehört? Das war doch nicht gespielt, mann." Gerade hatte Jakob den Mund öffnen wollen, um etwas darauf zu erwidern, als das Radio unerwartet verrückt spielte und laute Funkgeräusche von sich gab.

"Ey, ich krieg hier noch 'nen Rappel! Ist dieses verfluchte Ding jetzt ganz kaputt oder wie?", tobte Tanja, während sie abermals die Leiser-Taste des Radios betätigte. Als ihr ungeduldiges Gedrücke nicht die gewünschte Wirkung erzielt hatte, fuchtelte sie zusätzlich noch an den anderen Knöpfe herum, um zu schauen, ob das Radio überhaupt noch reagierte. Dem immer noch währenden Lärm zur Folge anscheinend nicht. Schließlich gab sie sich geschlagen und schaltete das Radio gänzlich ab.

Unfroh darüber nun ohne Musik im Auto verweilen zu müssen, ließ sie ihren Kopf auf das Lenkrad fallen, wobei sie mit ihrer hohen Stirn versehentlich die Hupe betätigte. Vor lauter Schreck schrie sie auf und klang zum ersten Mal seit langem, wieder wie das unschuldige, kleine Mädchen, das sie auch in Wahrheit war. Röte stieg ihr ins Gesicht, zunächst vor Scham, dann vor Wut auf ihre eigene Ungeschicktheit. Irgendwie aber gelang es ihr sich dieses eine Mal zusammenzureißen und kein einziges böses Wort zu verlieren. Stattdessen holte sie einmal tief Luft und ließ diese ganz langsam wieder heraus.

"Heute ist eindeutig nicht mein Tag", erklärte sie.

"Hätte ich geahnt, dass Romeo sich so krass verspäten würde, wäre ich schon längst zu meiner Oma gefahren und hätte mich um meine hochschwangere Luna gekümmert. Die Jungen wird sie zwar erst in ein paar Tagen bekommen denke ich, doch da es Luna's erste Schwangerschaft ist, will ich so oft es geht für sie da sein. Aww, wie ich mich schon auf die süßen, kleinen Hundebabys freue. Ich kann es kaum noch abwarten sie endlich zu knuddeln!" Augenblicklich schoss Jakob etwas durch den Kopf.

'Hat sie das nicht schon mal erzählt?' Irgendetwas an der Art wie Tanja die Geschichte erzählte, hatte in ihm ein unbeschreiblich vertrautes Gefühl geweckt. Langsam rutschte Jakob vom hinteren linken Sitz zur Mitte hin, um Tanja beim Erzählen besser beobachten zu können. Und tatsächlich! Je länger er ihr beim Erzählen zuschaute, desto stärker fühlte er sich in dem Gefühl bestätigt all das schon einmal gehört zu haben.

'Ich fass es nicht. Die Worte, die sie verwendet... die Kleidung, die sie dabei trägt... überhaupt, dass wir hier zu dritt im Auto sitzen und auf Romeo warten... wieso kommt mir das alles so bekannt vor? Aber das kann nicht sein. Sagte sie nicht gerade, es sei Luna's erste Schwangerschaft?' Fieberhaft grübelte er darüber, wie es sein konnte, dass ihm die ganze Situation so bekannt vorkam, doch eine Antwort auf diese Frage sollte er nicht bekommen. Und dann geschah es! Als habe jemand heimlich einen Schalter umgelegt, veränderte sich innerhalb eines Atemzugs die ganze Welt. Alles bewegte sich plötzlich Hundertmal langsamer. Farben verschwanden ins Nichts, Klänge verpufften in der Luft und überall wo Jakob hinschaute bestand plötzlich alles aus einsen und nullen. Die Fahrsitze. Deren Kleidung. Die draußen auf einer Laterne krächzene Krähe. Die Worte aus Tanjas Mund - ja sogar Tanja und Chris selber.

'Verliere ich jetzt komplett den Verstand? Wa- was passiert hier?' Mit aufgerissenem Mund und verwirrtem Blick saß Jakob einfach nur da und verstand die Welt nicht mehr. Er nahm die Brille herunter, rieb sich die Augen, kniff sie mehrmals fest zusammen und setze sich die Brille wieder auf. Kein Traum. Alles was er sah, geschah wirklich. In mitten der farblosen Stille entdeckte er durch die vordere Windschutzscheibe einen blau-schwarz bemusterten Schmetterling, welcher friedlich und in aller Ruhe herum zu flattern schien.

'Dieser Schmetterling... er ist anders.' In der Tat war der Schmetterling anders. Anders als alles andere schien nur dieser als einziger nicht aus einsen und nullen zu bestehen. Zudem flatterte der Schmetterling auch als einziger im normalen Tempo weiter. Was hatte dies zu bedeuten? Gerade als Jakob sich genau diese Frage stellte, fiel ihm etwas auf. Der Schmetterling schien sich direkt auf ihn zu zu bewegen.

'Nein, das kann nicht sein', hatte er gedacht und sich eingeredet, dass dieser jeden Moment die Richtung wechseln würde. Doch stattdessen kam es näher und näher und immer näher - bis das flatternde Wesen direkt vor der Windschutzscheibe war und dann plötzlich... im Auto war. Im Auto?! Jakob wollte seinen Augen nicht trauen, doch hatte er nun auch die Flügelschläge des Schmetterlings ganz deutlich vernehmen können.

"Wusch, wusch, wusch, wusch." Näher und näher rückte das Geräusch der auf und ab bebenden Flügeln. Noch immer war Jakob total erstaunt darüber, dass der Schmetterling die physikalischen Gesetze der Natur komplett ignoriert hatte. Es war einfach durch die Autoscheibe hindurch geflogen. Einfach so. Mittlerweile war der Schmetterling nur noch eine Armeslänge von ihm entfernt - nein 40 cm - jetzt nur noch 22 cm - 4 cm... und schließlich landete es behutsam und mit zwei abschließenden Flügelschlägen auf Jakobs Stirn. Einen Moment lang verharrte es dort, ruhig wie die Erde selbst. Dann, wie tropfendes, glühendes Lava, brannte es sich unangekündigt in Jakobs Schädel ein und verschwand mit einem grellen Leuchten so plötzlich wie es überhaupt erst aufgetaucht war. Verwundert tastete Jakob die Stelle unter dem Haaransatz ab, wo bis eben noch der Schmetterling gesessen hatte. Nichts.

'Was? Wo ist es hin?' Ein dumpfes Herzklopfen, das bis in seinen Schädel nachhallte, würde ihm schon bald die Antwort liefern. Ein unvorstellbar grausames Kopfschmerz-Inferno brach mit einem Male aus, so schmerzhaft, dass Jakob nicht anders konnte, als sich mit beiden Händen krampfhaft an den Kopf zu packen. Schon bald war es nicht mehr möglich ein wehleidiges Stöhnen zu unterdrücken, welches in kürzester Zeit zu einem von Pein geplagten Schrei heranwuchs.

'Was ist... das? Solche... Schmerzen!' Noch fester hielt er sich den Kopf zusammen. Fürchtete, dass wenn er dies nicht täte, ihm der Kopf zu zerbersten drohen könnte. Bittere Tränen bahnten sich jetzt den Weg nach draußen und vermochten ihm ein wenig Trost zu spenden. Gerade als Jakob fest davon überzeugt war, dass dies sein Ende war, erreichte ihn eine Flut aus Bildern vor seinem inneren Auge. Was er zu sehen bekam, ließ seine Pupillen augenblicklich auf die Größe von zwei kleinen Stecknadelköpfen schrumpfen. Kalter Schweiß rann ihm die Stirn herunter.

'Aufhören... aufhören! Es ist zu viel... viel zu viel!' Tausende und abertausende von Bildern wurden in Bruchteilen von Sekunden durch seinen Kopf gejagt. Millionen schrecklicher Bilder. Grauenvolle Bilder. Bilder von all seinen Freunden... zerstückelt, in ihrem eigenen Blut liegend und - tot.

Donnerstag, 22. Januar 2015

Kapitel 2. Der Countdown

"Leute, ich hab's gewusst - ich hab's sowas von gewusst! War ja klar, dass Romeo nicht so schnell wieder auftauchen würde, wenn er sagt, dass er SOFORT wieder da sein wird - ist doch immer das gleiche mit ihm! Wo steckt er überhaupt?" Es war Tanja, die sich wie so oft abermals über Romeos Zuspätkommen beklagte und es langsam Leid war sich ständig und immer wieder in der Situation wiederzufinden auf ihn warten zu müssen. Glücklicherweise hatte Chris vor knapp einer viertel Stunde vorgeschlagen schon mal ins Auto einzusteigen und sich in der Zwischenzeit vom Radio ablenken zu lassen. Für diesen Einfall war Tanja ihm überaus dankbar, denn trotzdessen, dass der Frühling sich hier und dort durch allmählich ersichtbare Blütenknospen zu erkennen gab, wehte die meiste Zeit eine ungewöhnliche Kälte im Winde mit.

"Jetzt wo du fragst", bemerkte Chris vom Beifahrerplatz aus, während er sich nachdenklich durch den breiten Ziegenbart strich.

"Ich bin bis eben noch davon ausgegangen, dass er sich nur mal kurz entleeren wollte, aber jetzt ist er echt schon lange weg."
Er drehte sich schräg nach hinten zu Jakob um, welchen er müde am Unterarm angelehnt und aus dem Autofenster blickend vorfand.

"Jay, hast du eine Ahnung wo Romeo hingegangen sein könnte?" Ohne großartig seine bequeme Sitzposition zu verändern, zückte Jakob sein Handy aus der Hosentasche und warf einen prüfenden Blick auf die Uhrzeit.

"Mir hat er nichts gesagt. Ich ging auch davon aus, dass er sich nur mal kurz 'entleeren' wollte." Jakob sprach das Wort "entleeren" auffällig deutlich aus, so als habe es etwas spezielles mit dem Wort auf sich gehabt.

"Und wo ist er dann?", wollte Tanja wissen. Chris und Jakob tauschten einen fragenden Blick aus. Tanja wurde sauer.

"Toll. Ihr habt auch keine Ahnung? Ja und jetzt?"
Noch vor einer halben Stunde hätte Chris Tanjas steigende Wut übels witzig gefunden. Doch irgendwie war ihm gerade gar nicht nach Lachen zumute. Jakob dachte laut nach.

"Möglicherweise hält ihn jemand auf, obwohl... dann hätte er uns doch geschrieben." Er hielt kurz inne bevor er weitere Gedanken offen aussprach.

"Und mittlerweile sind schon fast zwanzig Minuten um. Irgendetwas muss passiert sein." Obwohl Chris Hautfarbe einen warmen braunton besaß, schien sein Gesicht nach diesen Worten blasser geworden zu sein. Schon bevor Tanja nach Romeos Verbleib gefragt hatte, war er zur einer ähnlichen Schlussfolgerung gekommen, doch hatte er dies als absurdes Hirngespinst abgetan. Seltsamerweise klang das selbe Hirngespinst aus Jakobs Mund plötzlich gar nicht mehr so absurd.

"Ich rufe ihn jetzt an", beschloss Chris knapp und tätigte dieses mal einen gelb-leuchtenden Knopf seiner schwarzen Armbanduhr.

"Verbindung zu Code R-o-m-e-o herstellen." Es verging kaum eine Sekunde, da antwortete die Uhr schon mit einer sanften, aber mechanischen Damenstimme:

"Code R-o-m-e-o existiert seit 19 Minuten und 34 Sekunden nicht mehr. Falsche Zeitzone. Falsche Zeitzone." Chris blickte seine Uhr fragend an.

"Was? Romeos Nummer existiert nicht mehr? Das kann doch nicht sein, ich hatte heute Nachmittag in der noch mit ihm telefoniert, mann... ich versuch's nochmal." Wie ein Giftpfeil flog Tanjas Hand auf Chris Unterarm und stoppte ihn inmitten seiner Bewegung.

"Warte! Lass mich ihn anrufen. Dann kann er sich direkt was von mir anhören, aber frag nicht nach Sonnenschein." Für Chris war dies eigentlich umso mehr ein Grund gewesen Romeo selbst anzurufen, doch Tanjas störrischer, dickköpfiger Gesichtsausdruck ließ seinen Arm mitsamt Armbanduhr irgendwie schwer werden.

"Okay, dann ruf du ihn an", ergab er sich widerwillig. Sie würde ihn ja sowieso anrufen, gleichgültig was er sagen würde. Also wählte Tanja Romeos Nummer und schaltete anschließend den Lautsprecher ein, damit sie danach nicht gezwungen war alles doppelt und dreifach erzählen zu müssen. Gespannt lauschten sie nach dem Freizeichen, doch auch bei ihr antwortete ziemlich schnell eine maschinenartige Stimme. Dieses Mal männlicher Natur:

"Diese Nummer ist nicht vergeben. Diese Nummer ist nicht vergeben. Diese Nummer ist nicht vergeben." Sie legte auf. Entsetztes Schweigen brach über die drei herein. War Romeo tatsächlich etwas zugestoßen? Wieder tauschten Chris und Jakob Blicke aus. Chris fand als erster das Wort wieder.

"Leute, was sitzen wir hier noch blöd herum? Wir müssen Romeo sofort suchen gehen! Vielleicht liegt er genau in diesem Moment mit gebrochenem Bein irgendwo am Boden... oder er hat sich erst ein Bein gebrochen und wurde dann von einem lockeren Ziegelstein am Kopf getroffen, sodass er auch noch das Bewusstsein verloren hat oder... "

"Chris, beruhig dich wieder", entgegnete Jakob überraschend laut und packte ihn von hinten an der Schulter.

"Romeo wird weder das Bein gebrochen haben noch irgendwo bewusstlos herumliegen, okay? Ihm geht es gut." Mit diesen Worten hatte er nicht nur Chris, sondern und vorallem auch sich selbst beruhigen wollen. Schließlich konnte es tatsächlich sein, dass Romeo irgendwo schwerverletzt am Boden lag und gerade dringed Hilfe benötigte. Er ließ Chris los, der mit erschrockenem Gesichtsausdruck nun da saß. Von neuem folgte ein Blickaustausch, dieses mal aber länger und intensiver. Selbst Tanja bemerkte die Spannung in der Luft und wagte es nicht dazwischen zu funken. Wieder fand Chris als erstes das Wort:

"Jay, ich meine es ernst. Wir müssen ihn such-",

"Nein. WIR müssen gar nichts. ICH werde Romeo suchen gehen und zwar allein. Falls er nämlich doch noch gleich kommen sollte, muss er hier jemanden antreffen. Außerdem macht es nur dann Sinn zu dritt zu gehen, wenn wir uns bei der Suche aufteilen würden. Da wir aber noch nicht wissen, was der Grund dafür ist, dass Romeo nicht mehr zu erreichen ist, ist es erst einmal sicherer, wenn nur einer von uns geht und der Rest hier wartet." Jakob schaute kurz mit etwas zusammengekniffenen Augen aus den Fenstern raus.

'Seltsam... seitdem wir hier warten, habe ich keine einzige Person mehr an uns vorbeigehen gesehen. Irgendetwas stimmt hier nicht.'

"Jay, lass uns doch zu zweit gehen, mann. Dann finden wir ihn viel schneller und Tanja kann hier warten und-"

"Und wer passt dann auf Tanja auf?" Chris langes Schweigen ließ darauf schließen, dass er dies nicht bedacht hatte. Gereizt schaute er zur Seite und presste die Lippen fest zusammen.

"Jungs, beruhigt euch mal. Was ist auf einmal los mit euch? Ihr tut ja so, als ob hier ein Amokläufer herum spazieren würd-"
"Psst!" Chris stupste sich mit dem Zeigefinger auf den Mund, eine Geste, die aussagte, dass sie für einen Moment die Klappe halten sollte. Jetzt hörte sie es auch. Was war das? Chris erkannte als erster was es war und erhöhte die Radiolautstärke:

"Wir unterbrechen das Programm für eine wichtige Eilmeldung. Soeben hat uns die Nachricht erreicht, dass eine Vielzahl von Personen als vermisst gemeldet worden sind. Unter den Vermissten sind Menschen aus der ganzen Welt - erwachsene Männer, Frauen sowie Kinder sind davon betroffen. Augenzeugen, die das Verschwinden der Opfer gesehen haben sollen, berichten, dass über den Köpfen der Opfer wie aus dem Nichts ein 10 sekündiger-Countdown erschienen sei und sich dabei gleichzeitig etwas um den Ha-Hals- aargh! W-was ist... das... ich kr...kr...ieg... keine Luf... argh...n-nein...bitte aufhör... arrgh... der... Countdown... Hil...fe... bitte helft... mir... doch jema... aaaaahh!!"

Kapitel 1. Vier Freunde

Als der Schulgong ertönte, setzten sämtliche Geräusche wie auf Kommando ein. Reißverschlüsse von Federmäppchen wurden zu gezogen, sämtliche Stühle wurden quietschend hin und her gerückt und kreischend strömten die Schüler mit stampfenden Schritten lärmend aus dem Klassenzimmer heraus - darunter auch die vier Freunde Chris, Tanja, Jakob und Romeo.

„Na, endlich. Das wurde aber auch Zeit, mann! Ich dachte schon der Unterricht würde nie enden“, rief Chris erleichtert und schaute mit ausgestreckten Armen zur Schuldecke hinauf, als wollte er den Himmel umarmen. Chris war großgewachsen, durchtrainiert und besaß eine vollmilch-schokoladige Hautfarbe. Sein krauses Haar war oben kurz und an den Seiten fast kahl, während seine Augen dunkelbraun und sympatisch waren. Gerade wegen der breiteren Nase und den vollen Lippen, bekam sein Gesicht etwas Markantes und irgendwie auch Ausdruckstarkes.

"Ey, jetzt haben wir heute schon wieder so viel auf bekommen", beklagte sich Tanja und verdrehte dabei genervt die Augen. "Checken die Lehrer denn nicht, dass es auch noch sowas wie ein Leben nach der Schule gibt?“ Tanja sah neben Chris beinah wie ein Zwerg aus und war auch sonst deutlich kleiner als die anderen. Sie trug ihr braunes im Licht manchmal rot schimmerndes Haar kurz, besaß spinatgrüne Augen und eine kleine, nach oben verlaufende Stupsnase. Obgleich sie als Kind schon öfter für einen Knaben gehalten worden war, war es mittlerweile unverkennbar, dass sie dem weiblichen Geschlecht angehörte. Als sie sich weiterhin über die aufgetragenen Hausaufgaben beklagen wollen, bemerkte sie aus dem Augenwinkel heraus, wie Jakob scheinbar ihretwegen den Kopf schüttelte. Irgendwie regte er sie damit auf.

"Was passt dir denn jetzt schon wieder nicht, Vierauge?", keifte sie ihn an. Ein vielwissendes Lächeln stahl sich daraufhin auf seinen Lippen. Obwohl Jakob nur ein bis zwei Jahre älter war, als die anderen, machte er stets einen viel reiferen Eindruck, so als trage er die Lebenserfahrung eines erwachsenen Mannes in sich. Braunes, ordentlich gepflegtes Haar sowie eine randlose Brille schmückten diesen fast wie Chris großen, jungen Mann. Seine Haut war auffällig blass, doch genau dieser vampirähnliche Teint ließ seine tief liegenden, blauen Augen stählernd wirken.

"Liegt es nicht auf der Hand?", entgegnete er kühl und rückte dabei mit dem Zeigefinger die auf seiner Nase befindliche Brille zurecht.

"Mach sie doch einfach nicht. Biete morgen stattdessen ein fünf-minütiges Referat an oder erledige nur den schwierigsten Teil der Aufgaben und trage nur diesen vor. Du kannst sie notfalls sogar im Unterricht erledigen, wenn wir sie besprechen." Er tippte sich vielsagend mit dem Zeigefinger an die Schläfe. "Mach wenigstens von dem hier gebrauch, wenn du schon weniger Arbeit anstrebst." Tanjas Kopf wurde augenblicklich rot vor Zorn.

"Du eingebildeter, blöder Klugscheißer. Du hälst dich wohl für superschlau, nur weil du Klassenbester bist, was? Deine tollen Ratschläge kannst du dir in den Arsch schieben! Ist es denn meine Schuld, dass der Tag nur 24 Stunden hat?" Sie hatte wieder einmal den springenden Punkt nicht begriffen, dachte sich Jakob, der mittlerweile bereute überhaupt etwas gesagt zu haben.

"Ich bin Klassenbester? Das höre ich zwar zum ersten Mal, doch das bedeutet mir nichts. Was ich dir sagen wollte ist - ach, warum erkläre ich dir das überhaupt. Vergiss einfach was ich gesagt habe."

„Ach, warum erkläre ich dir das überhaupt. Vergiss einfach was ich gesagt habe“, äffte Tanja ihn mit schielenden Augen nach und legte sich Zeigefinger und Daumen so um die Augen, dass sie eine Brille ergaben. Chris stand kurz davor laut loszulachen. Jakobs Gesicht hingegen hätte nicht noch regungsloser sein können. Schließlich wandte er den Blick von ihr ab und ließ wie beiläufig eine Bemerkung fallen.

"Mich wundert es überhaupt nicht, dass du mit deinen 17 Jahren noch nie einen Freund hattest. Wenn du so weiter machst, wirst du noch als Jungfrau sterben." Tanjas soeben noch belustigte Miene gefror bei diesen Worten zu Eis.

"W-Was redest du da? Als ob du das beurteilen könntest, d-du Idiot! Außerdem werde ich schon bald 18", entgegnete sie mit nun vor Scham rot angelaufenem Kopf und war sichtlich aufgebracht bezüglich der Bemerkung. Chris konnte sich daraufhin nicht mehr am Riemen reißen und ließ nun schallendes Gelächter erklingen. Schon immer hatte Chris ihre Streitereien mit Belustigung mitverfolgt. Gerade dann, wenn Tanja so wütend geworden war, dass man hätte meinen können, dass sie kurz davor stand Jakob eigenhändig umzubringen. Anfangs, war Chris stets darum bemüht gewesen die beiden bei jedem Anzeichen von einem Streit auseinander zu halten. Mit der Zeit jedoch hatte er begriffen, dass das Triezen und Sticheln deren ganz spezielle Art und Weise war, sich gegenseitig zu zeigen, dass der eine dem anderen nicht egal war - zumindest glaubte er, dass deren Freundschaft irgendwie so in der Art funktionierte.

„Leute, wo bleibt ihr denn?", fragte fünf Schritte weiter eine hellere Jungenstimme, die seitdem sie die Klasse verlassen hatten kein einziges Wort mehr verloren hatte. Es war die Stimme von Romeo. Romeo war in der Gruppe wie die Kirsche auf der Sahne. Er besaß als einziger glänzendes, blondes Haar, welches ihm bis kurz über die Wangen ging und unschuldige, hellblaue Augen. Generell schien ihm etwas magisches und anziehendes im Gesicht beizuwohnen - eine Ausstrahlung, die einen unweigerlich dazu zwang ihn bewusst wahrzunehmen.

Gerade als die anderen wieder zu ihm aufholten, vernahmen sie ein leises Gegrummel aus der Richtung seines Bauches. Romeo fasste sich am Nacken und lächelte verlegen. Erneut ließ Chris schallendes Gelächter ertönen und warf dabei seine langen, muskulösen Arme um Tanjas und Jakobs Schultern.

„Wisst ihr was, Freunde?", fragte er ohne eine Antwort abzuwarten.

"Lasst uns doch spontan zu mir fahren und richtig lecker zusammen essen. Ich wollte euch ohnehin schon immer mal zu mir einladen und heute ist keiner bei mir zu Hause!" Er drückte seine Arme etwas enger beisammen und sprach nun im verführerischen Flüsterton weiter:

"Dann wärt ihr zwei Süßen ungestört und könntet in aller Ruhe weiter turteln. Na, wie wär's?“ Wie zwei bockige Kinder, die nicht miteinander spielen wollten, wendeten Tanja und Jakob den Blick voneinander ab. Nur Romeo schien begeistert von der Idee und bekam ganz große Augen.

"Wir haben schon ewig nicht mehr gemeinsam nach der Schule was unternommen - ich finde die Idee super, Chris!" Von einem ganz anderen Gedanken überfallen, blieb Romeo unangekündigt stehen.

"Ach, mir fällt gerade etwas ein. Geht ruhig schon mal vor. Ich werde sofort nachkommen, okay?.“ Ohne weitere Erklärungen eilte Romeo wieder in den Gang zurück aus dem sie gerade gekommen waren und bog nach wenigen Laufschritten seitlich ab.

"Wir warten am Parkplatz vor meinem Auto auf dich. Und beeil dich dieses mal bloß!", rief Tanja ihm noch schnell hinterher, obwohl Romeo schon nicht mehr in Sichtweite war. Sie wandte sich wieder Chris zu.

"Wie lange fährt man denn bis zu dir mit dem Auto?" Chris gab mit einer ruckartigen Handbewegung eine pechschwarze, hochglanz polierte Armbanduhr zu erkennen. An dessen Seite betätigte er einen Knopf, welcher kurz darauf im mystischen lilaton hell aufleuchtete. Wo bis vorhin Uhrzeit und Datum abzulesen waren, war nun eine kleine Karte mit einer in orange abgebildeten Strecke zu sehen. Am Anfang der Strecke blinkte ein kleiner, roter Punkt, welcher ihren aktuellen Standpunkt kennzeichnete, während am Ende der Strecke ein blaues Häusschen stand - Chris Zuhause. Erneut tätigte Chris den Knopf, um genauere Informationen über die Strecke zu bekommen und verzog beim Anblick der angezeigten Kilometeranzahl das Gesicht.

"86 Kilometer würden wir bis zu mir fahren, also knapp eine Stunde lang", antwortete Chris ganz leise und kratzte sich beschämt am Hinterkopf, "aber dafür", hier kehrte die Freude in seiner Stimme wieder zurück, "werden wir eine tolle Zeit miteinander haben und das ist die lange Fahrt doch dann wert! Komm schon, es wird ganz witzig. Ganz wie früher!" Mit früher meinte Chris die Zeit vor zwei Jahren. Damals hatte er noch direkt neben Tanja und ganz in der Nähe von Romeo gewohnt und konnte dadurch jeden Tag etwas mit ihnen unternehmen. Auch hatte er einen viel intensiveren Kontakt zu Jakob gehabt, da sie beide die selbe Kampfsportschule besucht hatten und nicht selten auch in ihrer Freizeit zusammen trainierten. Doch das alles schien vor über 100 Jahren gewesen zu sein.

"86km?", staunte Tanja mit schriller Stimme.

"Ich fahr doch jetzt nicht 86 Kilometer bis zu dir, Chris. Es ist gleich 16 Uhr und wir sind nicht einen einzigen Meter gefahren. Allein die Fahrzeit wird uns zwei Stunden kosten und dabei wollte ich heute früher nach Hause, weil ich morgen früh zu meiner Oma muss. Nein Chris, das kannst du voll knicken. Auf gar keinen Fall bin ich dab-", noch bevor Tanja ihren Satz zu Ende sprechen konnte, hatte Chris sie schon in den Schwitzkasten genommen und ihr mit einem bösen Lachen das Haar zerzaust.

"Und wie du dabei sein wirst, junge Dame. Jedenfalls, wenn du weiterhin möchtest, dass ich dir bei den Klausuren helfe." Tanja zog und zerrte am unbeugsamen Arm von Chris, doch es war, als versuchte eine Maus sich aus dem Griff einer Würgeschlange zu befreien.

"Jay, du bist doch auch dabei, stimmt's?", fragte er, während er Tanja weiterhin mit so wenig Kraftaufwand wie möglich im Schwitzkasten behielt. Chris war weit und breit der einzige, der Jakob 'Jay' nannte statt ihn beim richtigen Namen zu nennen. Obwohl es bekannt war, dass Jakob nicht gerade ein Freund von Spitznamen war, hatte dieser Chris noch nie diesbezüglich zurecht gewiesen.

"Nein, ich habe schon etwas vor", lehnte Jakob den Vorschlag ab. "Ein anderes mal vielleicht." Tanja, die sich endlich mit aller Kraft aus Chris Griff befreien konnte, warf ihm nun mit gerötetem Kopf einen beleidigten Blick zu.

"Blödmann! Musst du das immer mit mir machen?" Tanja versuchte nach ihm zu schlagen, aber spielerisch leicht wich Chris ihr aus und zollte ihren Worten keine Beachtung. Stattdessen überraschte ihn, dass Jakob erneut keine Zeit für sie hatte. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn.

"Jay? Ist alles in Ordnubg bei dir, mann?"
Jakob blickte beim Gehen auf den Boden und schien plötzlich in Gedanken vertieft zu sein.

"Jay? Jay mann, hörst du mich?" Noch immer ruhte Jakobs Blick gedankenverloren auf den grauen Asphaltboden. Hörte er ihn wirklich nicht? Erst als Chris sich vor ihm stellte und ihn mit beiden Armen an den Schultern packte, machte Jakob wieder den Eindruck anwesend zu sein.

"Was ist los, Jay? Brauchst du Hilfe bei irgendetwas? Bist du in Schwierigkeiten? Du kannst dich immer auf mich verlassen, wenn-"

"Nein", schnitt Jakob ihm das Wort ab und stieß Chris Arme von seinen Schultern weg.

"Es ist alles in Ordnung. Ich brauche keine Hilfe." Seine Stimme klang hart und kalt wie Eisen.

"Aber danke", fügte er rasch hinzu, weil er bemerkte, dass er strenger klang, als er eigentlich beabsichtigt hatte.

Wie aus heiterem Himmel ertönte ungebeten ein lautes Vibrieren. Jakob griff in die schwarze Anzugshose, die ihn kleidete und zückte sein Handy heraus. Er warf einen flüchtigen Blick auf den Bildschirm und ging ohne die Miene zu verziehen ran.

"Guten Tag, Herr Gerens... Nein, Sie stören nicht, ich habe gerade Zeit... richtig... okay... okay ich verstehe... und nächstes Wochenende auch nicht?... okay... okay, verstehe... gut, dann verbleiben wir so... auf Wiedersehen." Noch bevor Jakob auflegen konnte, sprang Chris ihm direkt vor die Nase und überfiel ihn mit seinen Fragen. Dabei hatte er Jakob abermals an den Schultern gepackt und ihn mit jeder Frage dramatischer geschüttelt.

"War das dein Chef? Herr Gerens ist doch dein Chef, stimmt's? Was hat er gesagt? Hast du frei bekommen? Bitte, sag, dass du frei bekommen hast, bitte!"

"Ja, es war mein Chef und jetzt lass mich los." Chris ließ ihn augenblicklich los und umarmte Tanja vor Freude, als stünde es schon fest, dass Jakob mitkommen würde.

"Hast du das gehört, Tanja? Jay ist dabei! Mann, wie ich mich freue! Endlich geht hier wieder was - der Tag heute wird ganz speziell, das spüre ich!" Tanjas Begeisterung hielt sich in Grenzen. An Stelle von Euphorie und Vorfreude, spiegelte ihre Mimik Ungläubigkeit und Skepsis wieder.

"Hä? Er hat doch nur das Wochenende frei bekommen. Das heißt doch noch lange nicht, dass er gleich mitkommt."
Jakob beschlich ein komisches Gefühl. Das er einfach so ein komplettes Wochenende frei bekommen hatte, ist bislang noch nie vorgekommen. War irgendetwas auf der Arbeit passiert? Andererseits war Jakob dadurch, dass er jetzt frei bekommen hatte nun in der Lage alle Erledigungen die er heute noch machen wollte auf das Wochenende zu verschieben. Und tatsächlich hatte er schon lange nichts mehr mit seinen Freunden unternommen. Hatte er nicht auch mal eine kleine Pause verdient?

"Also gut", seufzte Jakob schließlich.

"Ausnahmsweise komme ich heute mal mit und erledige den Rest am Wochenende."

"Das ist mein bro!", jubelte Chris voller Freude und legte auf der Stelle einen Rückwärtssalto hin. Tanja hingegen äußerte sich mit keinem Laut zu Jakobs Entscheidung, doch das Lächeln, welches kurz über ihr Gesicht huschte, sprach Bände. Was die drei zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnten war, dass sie Romeo nie wieder sehen werden würden.